Cover
Titel
Gendered Transactions: The White Woman in Colonial India, c. 1820–1930.


Autor(en)
Sen, Indrani
Erschienen
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 91,43
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manju Ludwig, Heidelberg

Gendered Transactions. The white woman in colonial India, c. 1820–1930 ist das Resultat jahrelanger Forschung zu verschiedenen Facetten der weißen Frau im kolonialen Indien. Die renommierte indische Historikerin Indrani Sen hat bereits Werke zu geschlechterspezifischen Aspekten und insbesondere zur Frauengeschichte des kolonialen Indiens vorgelegt, so zählen die Monographie Woman and Empire (2002) und der Quellenband Memsahibs‘ Writings (2008) mittlerweile zu Standardwerken der Geschlechter- und Kolonialgeschichte Südasiens. In der nun vorliegenden Monographie vereint Sen ihre diversen Forschungsschwerpunkte im Bereich der Frauenforschung unter dem Blickwinkel der „gendered transactions“ über mehr als hundert Jahre und variierende geographische Kontexte hinweg und verknüpft so diverse Themen wie Missionierung und Zivilisierungsmission durch weiße Frauen, Sozialreform und Frauenbildung, englischsprachige Literatur weiblicher Akteurinnen sowie die vielschichtigen Beziehungen zwischen britischen und indischen Frauen. Ergänzt werden diese bereits früher von Sen publizierten Themen durch die zwei neueren Blickwinkel der medizingeschichtlichen Untersuchung kolonialer diskursiver Formationen der Gesundheit weißer Frauen und der Analyse weißer subalterner Frauen in Ergänzung zur bislang in der kolonialen Frauengeschichte privilegierten Figur der memsahib (Ehefrau von kolonialen Beamten).

Sen möchte durch die Zusammenführung dieser diversen Themen keine homogene Kategorie der weißen Frau im kolonialen Kontext Indiens entwerfen, sondern vielmehr die Vielfalt und Vielschichtigkeit der partizipierenden Frauen vorführen. Die sechs Kapitel der Monographie untersuchen folglich die kolonialen Transaktionen diverser Akteurinnen, sowohl der aus der Mittelschicht entstammenden memsahibs, weißer Missionarinnen sowie der den weißen Subalternen zuzurechnenden weißen Ehefrauen europäischer Soldaten. Weißen Frauen wird von Sen generell viel Handlungsmacht zugeschrieben, die im Rahmen der kolonialen Machtausübung in Indien als Komplizinnen in der Zivilisierungsmission und der Wissensproduktion über das koloniale „Andere“ (S. 10) verstanden werden müssen: „[B]y circulating stereotypes about the abject condition of ‚native‘ women and producing colonial knowledge about the ‚Other‘, these female writers effectively performed the role of colluders in the colonial enterprise.“ (S. 12) Gleichzeitig zeigt Sen in der Analyse der medizinischen Diskurse und ihrer inhärenten Frauenfeindlichkeit auf, dass weiße Frauen aber auch einem „kolonialen Patriarchat“ (S. 206) unterworfen waren. Hier kam es Sen zufolge zu einer Marginalisierung der memsahib durch die diskursive Konstruktion weiblicher weißer Gesundheit in kolonial-medizinischen Schriften. Die Zweiteilung des Buches verdeutlicht die widersprüchliche Position der weißen Frau im kolonialen Indien. Zum einen wurde ihr im Rahmen der Zivilisierungsmission ein beachtlicher Handlungsspielraum in der Mitgestaltung der kolonialen Gesellschaft zuteil, den sie durchaus zur Machtausübung nutzte (Teil I), während der koloniale Kontext im Bereich der Häuslichkeit (Domestizität) und der Gesundheit Nachteile aufgrund des Geschlechtes mit sich brachte (Teil II). Generell behandelt Sen die koloniale Gesellschaft in Indien als eine von Widersprüchen und Unsicherheiten beherrschte, in der nicht nur Konflikte zwischen den Geschlechtern und zwischen den Beherrschenden und Beherrschten, sondern auch die existierenden Klassenunterschiede in der weißen Gesellschaft selbst für Spannungen sorgten.

Das Buch deckt einen Zeitraum von über hundert Jahren ab und einer der von Sen gezogenen Schlüsse ist, dass erstaunliche Kontinuitäten in den analysierten diskursiven Formationen beobachtet werden können: „[T]here was often a curious sameness to be found in the position of the white woman in India and in the attitudes to her throughout the colonial period.“ (S. 15) Die diverse Quellenbasis der vorliegenden Monographie, die Sens Argumente untermauern, ist beachtlich. So analysiert sie Schriftstücke, die von weißen Frauen (und manchmal auch von indischen Frauen oder von weißen Männern) selbst verfasst wurden, wie Memoiren, Briefe, Tagebücher, Biographien, Zeitungsartikel, Romane, Haushalts-Handbücher und medizinische Ratgeber. Sen zufolge waren vor allem die Missionarinnen (S. 29ff.), ab dem späten 19. Jahrhundert aber auch memsahibs wie Flora Annie Steel (S. 53ff.) und westliche gebildete indische Frauen aus der gehobenen Mittelschicht („New Indian Woman“) wie Shevantibai Nikambe (S. 86ff.) und Krupabai Satthianadhan (S. 93ff.) produktive Schreiberinnen (S. 9ff.).

Sen leistet einen wichtigen Beitrag zur feministischen Geschichtsschreibung des kolonialen Indiens, indem sie die vielfältigen Stimmen europäischer und indischer Frauen in den Mittelpunkt ihrer Analyse rückt. Nichtsdestoweniger spiegelt das Buch das auch im kolonialen Archiv verankerte Ungleichgewicht zwischen Zeugnissen von subalternen Frauen und denen aus der Elite wider. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der exklusive Fokus auf englischsprachige Quellen diesen Fokus auf Frauen aus der Elite nicht unnötig verstärkt. Dies ist umso erstaunlicher, da Sen für sich in Anspruch nimmt, ihr auf Michel Foucault basierendes analytisches Werkzeug des „colonial gaze“ (S. 14)1 als dialektisch zu begreifen (S. 205) und aus diesem Grund auch indischen Frauen eine Stimme zu verleihen. Dem Transaktionsgedanken des Buches liegt die Idee zugrunde, nicht nur die Trope des „colonial female gaze“, sondern eben auch „the ‚return of the gaze‘ by ‚native‘ women“ (S. 205) zum Untersuchungsobjekt zu erheben – eine Inklusion von Quellenmaterial in südasiatischen Sprachen wäre hier sicher fruchtbar gewesen, um die indischen weiblichen Perspektiven in den beschriebenen kolonialen Kontexten zu stärken und Sens Argument über die Unsicherheiten und Ambivalenzen im kolonialen Mächteverhältnis zu untermauern. Kapitel, die neuere Aspekte kolonialgeschichtlicher Forschung thematisieren, arbeiten außerdem verhältnismäßig oft mit Sekundärliteratur und deren Quellen und nicht mit neuem Quellenmaterial. So bezieht sich der Abschnitt über die Darstellung von Ehefrauen der weißen Soldaten als anfällig für Delirien und Alkoholismus in Kapitel 6 fast ausschließlich auf Waltraud Ernsts und Erica Walds medizinhistorischer Forschung sowie Harald Fischer-Tinés Analyse der weißen Subalternen im kolonialen Indien und übernimmt Primärquellen aus diesen Arbeiten.2

Ein Bereich, der Sen zufolge „virtually untouched in current research“ sei, ist der koloniale medizinische Diskurs (S. 206). Dies mag für das Thema der Gesundheit der weißen Frau im kolonialen Indien zutreffen, für welches Sen auch eine sorgfältige Analyse selten besprochener medizinischer Publikationen vorlegt. Im Bereich der kolonialen Rechtsgeschichte, der Sexualitäts- und Männlichkeitsforschung nehmen rechtsmedizinische koloniale diskursive Formationen jedoch schon des Längeren einen wichtigen Forschungsschwerpunkt ein.3 In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, was Sen genau unter dem für die Analyse zentralen Begriff „gendered“ versteht, der bedauerlicherweise nie theoretisch verortet wird. Zusammengefasst legt Sen mit Gendered Transactions jedoch eine faszinierende und analytisch scharfsinnige Analyse der diversen Facetten kolonialer Geschlechterbeziehungen vor dem Hintergrund von Rasse, Kaste und Klasse vor, die sich zu Lesen lohnt.

Anmerkungen:
1 Sens auf das Geschlecht fokussierte Überlegungen basieren auf dem von Michel Foucault entwickelten Konzept des medizinischen oder klinischen Blickes. Vgl. Michel Foucault, The Birth of the Clinic: An Archeology of Medical Perception, London 1973.
2 Waltraud Ernst, Mad Tales from the Raj: The European Insane in British India, 1800-1858, London 1991; Harald Fischer-Tiné, „The Drinking Habits of Our Countrymen“: European Alcohol Consumption and Colonial Power in British India, in: The Journal of Imperial and Commonwealth History 40/3 (2012), S. 383–408; Ders., Low and Licentious Europeans: Race, Class and ‚White Subalternity‘ in Colonial India, New Delhi 2009; Erica Wald, Vice in the Barracks: Medicine, the Military and the Making of Colonial India, 1780-1868, London 2014.
3 Vergleiche zum Beispiel Anjali Arondekar, For the Record, Sexuality and the Colonial Archive in India, New Delhi 2009; Elizabeth Kolsky, The Body Evidencing the Crime: Rape on Trial in Colonial India, in: Gender & History 22/1 (2010), S. 109–130; Dies., Colonial Justice in British India: White Violence and the Rule of Law, Cambridge 2010; Ishita Pande, Sorting Boys and Men: Unlawful Intercourse, Boy-Protection, and the Child Marriage Restraint Act in Colonial India, in: The Journal of the History of Childhood and Youth 6/2 (2013), S. 332–358; Jessica Hinchy, Troubling Bodies: “Eunuchs”, Masculinity and Impotence in Colonial North India, in: South Asia History and Culture 4/2 (2013), S. 196–212.

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